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1941 bis 1950: „Das Tor zur Welt war wieder aufgestoßen“ – das RKI und seine Bibliothek

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Einkleber in einem von den USA gespendeten Buch. Quelle: © RKI Einkleber in einem von den USA gespendeten Buch. Quelle: RKI

Ein Morgen im Frühsommer 1945: Vom südlichen Ufer stakt ein Fährmann eine Gruppe von Mitarbeitern des Robert Koch-Instituts über den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal auf die andere Seite ans Nordufer. Die Föhrer Brücke ist zerbombt, etliche Gebäude auf dem Institutsgelände sind zerstört. Und nicht nur der Weg zur Arbeit ist beschwerlich.

Am 22. April 1945 besetzen sowjetische Truppen das Institut. Geplündert wird nichts, ein Mitarbeiter, so wird erzählt, hat wohlweislich ein Schild an das Eingangsportal gehängt, auf dem auf Deutsch und Russisch steht: “Achtung, Seuchengefahr!“. Die sowjetischen technischen Assistentinnen, die einige Tage später ins Institut geschickt werden, haben den Auftrag, pathogene Mikroorganismen zu zerstören, weil man fürchtet, dass im RKI Biowaffenforschung betrieben worden ist. „Das war und ist ein großer Verlust für das Institut – die Zerstörung der Bakterienstämme, mit denen schon Robert Koch gearbeitet hat“, berichtet Henriette Senst, Leiterin der Bibliothek des RKI. Sie hat die Nachkriegszeit im Institut erforscht.

Kaum noch vorstellbar ist heute der Mangel an allem, was für die Arbeit eines Forschungsinstituts nötig ist. Neben Versuchstieren, Mikroskopen, Bruteiern für die Impfstoffherstellung, Strom und Gas fehlt den Wissenschaftlern, die unmittelbar nach dem Krieg die Arbeit im Institut aufnehmen, eine wesentliche Grundlage wissenschaftlicher Arbeit: der Zugang zur aktuellen Fachliteratur des Auslands.

Abgekoppelt von der internationalen Wissenschaft

Schon einmal, während und nach dem Ersten Weltkrieg, sind deutsche Wissenschaftler von der internationalen Entwicklung abgekoppelt. Bis zu Beginn des Krieges 1914 ist die deutsche Wissenschaft Weltspitze – auf die Alliierten wirkt diese Führungsposition wie ein Reizmittel. Man will die Vormachtstellung nach Kriegsende brechen. Im Versailler Vertrag wird die Isolation der deutschen Wissenschaft beschlossen. „Als besonders wirkungsvoll erwies es sich, dass man Beiträge aus deutschen Zeitschriften in internationalen Bibliographien nicht mehr auswertete und ignorierte“, sagt Henriette Senst. Somit werden die Erkenntnisse aus Deutschland, in deutschen Zeitschriften publiziert, unsichtbar. Die englische Seeblockade zwischen 1915 und 1918 verhindert außerdem, dass ausländische Literatur nach Deutschland gelangt.

Ein Mitarbeiter hat wohlweislich ein Schild an das Eingangsportal gehängt, auf dem auf Deutsch und Russisch steht: „Achtung, Seuchengefahr!“

Die Isolation wird zwar schon 1926, nach der Wiederaufnahme Deutschlands in den Völkerbund, aufgehoben. Doch die Machtergreifung der Nationalsozialisten bringt erneut große Einschränkungen für die Wissenschaft. Der internationale persönliche Austausch unter Wissenschaftlern wird von den Nationalsozialisten streng kontrolliert. Konnten sich Wissenschaftler bis dahin in der Fachliteratur über neue Erkenntnisse auf ihrem Fachgebiet informieren, so fehlt diese Möglichkeit zunehmend. Bibliotheken und Bibliothekare unterliegen den Gleichschaltungsbemühungen, wie andere Institutionen auch. Und wie in anderen Institutionen regt sich auch hier keinWiderstand. Jüdische Leser werden schikaniert, Mitarbeiter aus „rassischen“ Gründen entlassen, der Bibliotheksbestand von unerwünschter Literatur „gesäubert“. Bibliothekare betreiben Bestandsaufbau nach „völkischen“ Gesichtspunkten: Der deutschen Verlagsproduktion wird der Vorzug gegenüber der „minderwertigen“ ausländischen Literatur gegeben. „So hatte das ausländische Buch während des Krieges beinahe den Seltenheitswert einer Handschrift erreicht“, zitiert Henriette Senst einen Bibliothekar aus dieser Zeit. Kurz: Die deutsche Wissenschaft ist international abgekoppelt, der Austausch zerstört, die Forschungslandschaft zersplittert.

Informationsbeschaffung wie in einem Thriller

Doch so eifrig das nationalsozialistische Regime darauf bedacht ist, seiner Bevölkerung das „schädliche“ ausländische Gedankengut vorzuenthalten, so sehr ist es darauf angewiesen zu erfahren, welchen Stand die Forschung in den gegnerischen Nationen erreicht hat. Als Großbritannien und die USA nach Kriegsbeginn die offiziellen Kanäle der Literaturbeschaffung nach Deutschland komplett schließen, organisieren gleich mehrere deutsche Institutionen gemeinsam mit dem Geheimdienst Aktionen, um an Literatur zu gelangen.

„Ein ganzes Heer von Geheimfotografen arbeitete für die rivalisierenden Geheimdienste in den Ländern, die an die Mitglieder der ‚Achse‘ - also die verbündeten Länder Deutschland, Italien und Japan, angrenzten. Zum Beispiel Schweden, die Türkei und Portugal“, erzählt Henriette Senst. Teilweise erinnern diese Aktionen an den Plot eines Action-Thrillers: die Geschichte des deutschen U-Bootes etwa, das bis vor die Küste von Maine, USA, fährt und zwei Agenten absetzt. Als diese versuchen, in öffentlichen Bibliotheken wichtige Informationen auf Mikrofilm zu fotografieren, werden sie vom FBI verhaftet. „Nach Deutschland gelangten ihre Informationen nie.“

Das Tor öffnet sich wieder

Nach dem Krieg fehlt es in allen deutschen Institutionen an ausländischer Literatur. Die meisten haben den Kontakt zu ihren internationalen Fachkollegen verloren und keinen Überblick mehr über die aktuell gängigen Methoden. Das wird auch von den Wissenschaftlern im RKI beklagt. Ende der 1940er Jahre übernimmt Lotte Roudolf die Leitung der Institutsbibliothek: Roudolf ist selbst promovierte Chemikerin, vorher hatte sie in der Patentabteilung bei Schering gearbeitet. Jetzt setzt sie alle Hebel in Bewegung, um die Bestandslücken zu schließen und neueste Literatur zu organisieren.

Nach dem Krieg fehlt es in allen deutschen Institutionen an ausländischer Literatur. Die meisten haben den Kontakt zu ihren internationalen Fachkollegen verloren und keinen Überblick mehr über die aktuell gängigen Methoden.

Dabei hilft es ihr, dass die westlichen Alliierten, vor allem die US-Amerikaner, ab 1947 Hilfsprogramme entwickeln, um deutschen Wissenschaftseinrichtungen Zugang zur aktuellen Fachinformation zu ermöglichen.

Das besondere Stück des Abends stammt auch aus einer Spende der Amerikaner – es ist ein abgegriffenes Handbuch über Labormethoden der United States Army von 1944. „Das Tor zur Welt war wieder aufgestoßen“, schreibt eine Zeitzeugin 1959 in der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, und fasst damit die Erleichterung über den wiederbeginnenden Austausch zusammen.

Aber auch die persönlichen Kontakte kommen wieder in Gang. 1947 besucht Albert Sabin, der Erfinder der Schluckimpfung gegen Kinderlähmung (Poliomyelitis), das Robert Koch-Institut. Als er sieht, welcher Mangel im Bereich der aktuellen Literaturversorgung herrscht, bittet er nach seiner Rückkehr etliche medizinische Verlage in den USA, das RKI in die Verteilerlisten für Zeitschriften aufzunehmen. Das RKI profitiert noch immer vom hohen Ansehen seines Namensgebers: Viele der angeschriebenen Verlage reagieren prompt und schicken dem Institut die gewünschten Publikationen.

Das RKI profitiert noch immer vom hohen Ansehen seines Namensgebers: Viele der angeschriebenen Verlage reagieren prompt und schicken dem Institut die gewünschten Publikationen.

Albert Sabin bleibt dem RKI verbunden. Noch in den 1980er Jahren besucht er das Institut. Er ist begeistert zu sehen, welche modernen Forschungsmöglichkeiten nunmehr bestehen. Sein Anteil, dass das RKI Ende der 1940er Jahre wieder am Wissensaustausch teilnehmen und in die internationale Forschungslandschaft zurückkehren konnte, ist nicht hoch genug zu schätzen.

Stand: 16.10.2017

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