Navigation und Service

Zielgruppeneinstiege

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Mit dem Klick auf "Erlauben" erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihren Aufenthalt auf der Seite anonymisiert aufzeichnen. Die Auswertungen enthalten keine personenbezogenen Daten und werden ausschließlich zur Analyse, Pflege und Verbesserung unseres Internetauftritts eingesetzt. Weitere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den folgenden Link: Datenschutz

OK

1991 – 2000 Ist das Wissenschaft, oder kann das weg? Die Studien des SozEp und ihre Bedeutung

BilderstreckeBildVideo 2 / 13

Das Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie in Berlin-Tempelhof. Quelle: © RKI Das Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie in Berlin-Tempelhof. Quelle: RKI

Das Fax stammt vom 18. Dezember 1997 und ist an die Epidemiologin Bärbel-Maria Kurth adressiert. Es handelt sich um einen Artikel aus der Süddeutschen Zeitung, um die Kritik am Robert Koch-Institut und seine Funktion als Frühwarnsystem für Krankheiten: „Vor so einem Hintergrund werden gute Leistungen leicht übersehen“, ist da zu lesen. „So hat der Fachbereich ‚Nicht-übertragbare Krankheiten und Gesundheitsberichterstattung‘ – von einer angesehenen Wissenschaftlerin geleitet – ein methodisch anspruchsvolles gesamtdeutsches ‚Gesundheitssurvey‘ begonnen. Das Studiendesign verspricht erstmals weit mehr als nur Datenmüll zu liefern.“ Gesendet hat das Fax der damalige Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten im RKI, Reinhard Burger.

Die Zeilen sagen einiges aus über das Gerangel im RKI in den 1990er Jahren. Das Bundesgesundheitsamt wird nach 42 Jahren zerschlagen. Das auf Infektionskrankheiten spezialisierte Robert Koch-Institut bekommt ein zweites großes Thema: die nicht übertragbaren Krankheiten. Und die Epidemiologie wird unverzichtbar. Epidemiologen untersuchen die Verbreitung von Krankheiten in der Bevölkerung – von Infektionskrankheiten, aber auch von nicht-übertragbaren Krankheiten wie Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Übergewicht und Diabetes – und deren Risikofaktoren. Für das RKI ist das damals Neuland. „In dieser Zeit wurden die Weichen für ein modernes Public-Health-Institut gestellt“, sagt Bärbel-Maria Kurth, Leiterin der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring im RKI. Sie und Osamah Hamouda, der heute die Abteilung für Infektionsepidemiologie leitet, waren mittendrin.

Bundesgesundheitsamt: Ein Tanker wird zerlegt

Die beiden Wissenschaftler treffen sich erstmals 1991, in einem Epidemiologie-Kurs des Bundesgesundheitsamtes in Berlin-Dahlem. Die Statistikerin und Mathematikerin Bärbel-Maria Kurth hat sich gerade als Fachgebietsleiterin Umweltepidemiologie beim Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, kurz SozEp, in Berlin-Tempelhof beworben. Osamah Hamouda ist frisch im AIDS-Zentrum eingestellt, das unter anderem das AIDS-Fallregister führt und jedes Jahr einen AIDS-Bericht für Deutschland herausgibt. Beide Institute sind damals Teil des Bundesgesundheitsamtes, genau wie das Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, das Institut für Arzneimittel, das Institut für Veterinärmedizin, das Max von Pettenkofer-Institut und das Robert Koch-Institut.

Das Bundesgesundheitsamt wird nach 42 Jahren zerschlagen. Das auf Infektionskrankheiten spezialisierte Robert Koch-Institut bekommt ein zweites großes Thema: die nicht-übertragbaren Krankheiten.

Dann kommt die AIDS-Affäre. „Der Grund dafür, warum wir uns schließlich alle im RKI wiedergefunden haben“, sagt Osamah Hamouda. Das Bundesgesundheitsamt steht schon seit Mitte der Achtziger Jahre in der Kritik, nachdem sich in Deutschland tausende Bluterkranke über Blutprodukte mit HIV infiziert haben. 1993 scheint sich die Geschichte zu wiederholen, als eine Firma Plasmaspenden nicht so sorgfältig auf HIV testet wie vorgeschrieben. Wieder infizieren sich einige Patienten mit dem Virus. Der Skandal um verseuchte Blutprodukte ist neu entfacht.

Auch das SozEp gerät in die Schlagzeilen. 1992 rückt die Staatsanwaltschaft in Tempelhof an und trägt kistenweise Akten aus dem Institut. Im Fadenkreuz steht die Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie, für die seit 1984 die Gesundheit von Bürgern in Westdeutschland insgesamt dreimal untersucht und mit Fragebögen erfasst wurde. Jetzt wird dem SozEp vorgeworfen, 100 Millionen Mark für „nutzlose Infarktvorsorge verpulvert“ haben, wie es der Spiegel formuliert. Mitarbeiter sollen scheinbeschäftigt, Gelder veruntreut, Ziele nicht erreicht worden sein. Ein Prozess wird später aus Mangel an Beweisen eingestellt; doch der Ruf der deutschlandweit einzigartigen Studie ist dahin.

1994 wird das Bundesgesundheitsamt aufgelöst, seine Institute neu aufgeteilt. Das AIDS-Zentrum und das Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie werden mit dem Robert Koch-Institut zusammengelegt.

Am Anfang passt es nicht so richtig

Epidemiologen forschen nicht im Labor. Wenn sie etwa herausfinden wollen, welche Risikofaktoren Herz-Kreislauf-Erkrankungen zugrunde liegen, entwerfen sie ausgeklügelte Fragebögen, führen umfangreiche Studien in der Bevölkerung durch und werten die Daten mit statistischen Methoden aus. Es ist eine vergleichsweise junge Disziplin im Deutschland der Neunziger Jahre, und manchen RKI-Wissenschaftlern regelrecht suspekt. Einer fragt: Ist das denn Wissenschaft, was die da machen … ? „Es passte nicht so richtig“, sagt Bärbel-Maria Kurth. Querverbindungen gibt es kaum – weder inhaltlich noch lokal. Das RKI sitzt im Wedding, die Epidemiologen bleiben im ehemaligen SozEp-Gebäude in Berlin-Tempelhof, und das AIDS-Zentrum am Reichpietschufer in Tiergarten. „Von ’93 bis ’96 machte jeder seins.“

Frischer Wind aus dem Osten

Die Wende beschert den Epidemiologen um Bärbel-Maria Kurth einen unverhofften Schatz an Daten. Der letzte repräsentative Survey der Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie war 1990 ausgelaufen. Anschließend wurde derselbe Survey – die gleichen Fragen, dieselben Untersuchungen nach der gleichen Methode – in den fünf neuen Bundesländern durchgeführt. „Jetzt konnten wir Ost-West-Vergleiche darstellen“, sagt Kurth. Sie kommen zu dem historischen Ergebnis, dass Ostdeutsche neben vielen anderen Unterschieden im Gesundheitsverhalten und im Gesundheitszustand überraschenderweise sehr viel seltener an Allergien leiden. Das wirft damalige Hypothesen, wonach die Umweltverschmutzung für die Zunahme an Allergien und Asthmaverantwortlich sei, über den Haufen.

Sie kommen zu dem historischen Ergebnis, dass Ostdeutsche neben vielen anderen Unterschieden im Gesundheitsverhalten und im Gesundheitszustand überraschenderweise sehr viel seltener an Allergien leiden.

Bärbel-Maria Kurth vermutet, dass die Kinder im Osten mehr Infektionen durchgemacht haben – schließlich gingen fast alle in die Kinderkrippe. Dadurch sei ihr Immunsystem vermutlich mehr stimuliert worden. Dieser so genannten Hygiene-Hypothese geht die Allergieforschung bis heute nach. Damals bringt ihr diese Aussage allerdings auch den wütenden Brief eines Amtsarztes aus Bayern ein: Er habe recherchiert, dass Frau Kurth aus der ehemaligen DDR stamme. Sie solle nicht denken, dass sie auf diese Art und Weise unter dem Deckmantel von Gesundheitssurveys kommunistische Ideologien indoktrinieren könne, „um Eltern das Krippendasein ihrer armen Kinder schmackhaft zu machen.“

Die Arbeiten tragen maßgeblich dazu bei, dass weitere Gesundheitssurveys finanziert werden und das Bundesministerium für Gesundheit das RKI mit der Gesundheitsberichterstattung für Deutschland beauftragt. Ziel der Gesundheitsberichterstattung ist es, ein Bild vom Gesundheitszustand der Bevölkerung zu zeichnen – vom Gesundheitsverhalten und der Verbreitung von Risikofaktoren über die Häufigkeit bestimmter Krankheiten bis hin zur Inanspruchnahme von Therapien und den entstehenden Kosten im Gesundheitswesen.

Eine neue Struktur für das Robert Koch-Institut

1996/97 zählt das RKI rund 600 Mitarbeiter, darunter 179 Wissenschaftler, in sechs großen Fachbereichen und 53 untergeordneten Fachgebieten. Der Jahresetat beträgt 66 Millionen Mark – umgerechnet 33 Millionen Euro. „Das Institut war irgendwie zusammengewürfelt, funktionierte aber nicht richtig“, sagt Bärbel-Maria Kurth. Es wird durch den Wissenschaftsrat begutachtet. Und der empfiehlt dem neuen Institutsleiter, das Haus anders zu organisieren, durchlässiger zu machen. Winzige Fachgebiete, die teilweise nur aus einem Wissenschaftler mit Sekretärin bestehen, werden zusammengelegt. Am Ende gibt es zwei große wissenschaftliche Abteilungen: die Abteilung für Infektionskrankheiten und die Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, inklusive einem neuen Fachgebiet für Infektionsepidemiologie. Außerdem werden erstmals flexible Projektgruppen eingerichtet, die sich bestimmten Forschungsthemen widmen.

Infektionsepidemiologie nach US-amerikanischem Vorbild

Auch das AIDS-Zentrum hat sich gewandelt. „AIDS hatte gezeigt, dass das Kapitel Infektionskrankheiten noch lange nicht abgeschlossen war. Dass immer wieder neue Infektionskrankheiten auftauchen können“, berichtet Osamah Hamouda. Schon zu Beginn der 1990er Jahre gibt es erste Überlegungen, die Infektionsepidemiologie für Deutschland wieder neu aufzubauen: mit einer Task Force, die akute Krankheitsausbrüche untersucht, einem zweijährigen Ausbildungsprogramm für angewandte Infektionsepidemiologie und einem Epidemiologischen Bulletin, das wöchentlich Daten und Berichte zu Infektionskrankheiten veröffentlicht. Unterstützung kommt vom renommierten Infektionsepidemiologen Lyle Petersen von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA, der für vier Jahre ins RKI wechselt.

Um die Jahrtausendwende erlebt die Infektionsepidemiologie im RKI einen rasanten Aufschwung. 1998 führen die RKI-Wissenschaftler die erste Ausbruchsuntersuchung, die eine große öffentliche Aufmerksamkeit gewinnt, in Deutschland durch: Ein Meningokokken-C-Ausbruch in Pfarrkirchen. 2001 tritt das Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Kraft, das dem RKI neue gesetzliche Aufgaben einräumt und weitere Stellen schafft. Innerhalb weniger Jahre entwickelt sich aus dem früheren AIDS-Zentrum eine neue Struktur. Die Infektionsepidemiologie steigt von einem Fachgebiet zu einer eigenen Abteilung im RKI auf.

Das Institut für die Gesundheit der Bevölkerung

Ab 2008 wird das RKI im Rahmen des Projekts „RKI 2010“ erneut ausgebaut und personell aufgestockt; inzwischen arbeiten hier 1.100 Menschen aus 90 verschiedenen Berufen, darunter 450 Wissenschaftler. Der Jahresetat beträgt rund 90 Millionen Euro. Heute besteht das RKI aus vier wissenschaftlichen Abteilungen: Infektionskrankheiten, Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Infektionsepidemiologie und dem Zentrum für Biologische Gefahren und Spezielle Pathogene.

Die Expertise des RKI ist inzwischen nicht nur deutschlandweit, sondern zunehmend auch international gefragt – während des Ebolafieber-Ausbruchs 2014/2015 in Westafrika etwa haben etliche Mitarbeiter aus Virologie und Epidemiologie dabei geholfen, die Krankheit vor Ort einzudämmen. Und die Abteilung von Bärbel-Maria Kurth kann die großen Gesundheitsstudien endlich verstetigen und in ein europaweit einzigartiges Gesundheitsmonitoring einbringen: Für die Studien KiGGS (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland) und DEGS (Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland) beispielsweise werden tausende Teilnehmer in regelmäßigen Abständen untersucht und befragt.

Ab 2008 wird das RKI im Rahmen des Projekts „RKI 2010“ erneut ausgebaut und personell aufgestockt; inzwischen arbeiten hier 1.100 Menschen aus 90 verschiedenen Berufen, darunter 450 Wissenschaftler.

Das Projekt „RKI 2010“ hat das Institut nachhaltig gestärkt, so dass es neuen Herausforderungen im Gesundheits- und Infektionsschutz besser gerecht werden kann – im Sinne eines modernen Public-Health-Instituts. Die Weichen gestellt und die Grundlagen geschaffen wurden jedoch bereits in den Neunziger Jahren.

Stand: 16.10.2017

Gesundheits­monitoring

In­fek­ti­ons­schutz

Forschung

Kom­mis­sio­nen

Ser­vice

Das Robert Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit

© Robert Koch-Institut

Alle Rechte vorbehalten, soweit nicht ausdrücklich anders vermerkt.