Aufklärung eines neuen Wirkmechanismus zur Verstärkung der oralen Toxizität von Botulinum Neurotoxinen
Stand: 24.01.2025
Wie wird die äußerst hohe Toxizität von Botulinum Neurotoxinen nach oraler Aufnahme auf molekularer Ebene vermittelt? Die Beantwortung dieser Frage ist wichtig, um das Krankheitsbild Botulismus zu verstehen. Erstmalig gelang es einem internationalen Forscherteam, eine Verbindung der Struktur und Funktion der Komponenten des bakteriellen OrfX/P47-Genclusters zur Wirksamkeit von Botulinum Neurotoxinen nach oraler Aufnahme zu identifizieren. Alle Komponenten des OrfX/P47-Genclusters (OrfX1, OrfX2, OrfX3, P47, NTNH) tragen wesentlich zur drastischen Erhöhung der oralen Toxizität bei. OrfX2 wirkt hierbei interessanterweise als „molekularer Schalter“, der nach Aktivierung durch Verdauungsenzyme des Wirtes einen Komplex mit dem Neurotoxin über das nicht-toxische Protein NTNH eingeht.

Die bakteriellen Botulinum Neurotoxine stellen die giftigsten bekannten Substanzen der Welt dar und lösen bei Menschen und Tieren das seltene aber schwerwiegende Krankheitsbild Botulismus aus, das mit schwersten Lähmungserscheinungen einhergeht und unbehandelt zum Tode führen kann. Insgesamt sind über 40 Varianten (Subtypen) bekannt, die wiederum in acht Serotypen A bis H eingeteilt werden. Neben dem Auftreten der Krankheitsformen Wundbotulismus und Säuglingsbotulismus, die durch bakterielle Besiedlung von Wunden bzw. dem gastrointestinalen Trakt von Säuglingen verursacht werden, ist die häufigste Form in Deutschland der Lebensmittel-bedingte Botulismus. Hierbei handelt es sich um eine Lebensmittelvergiftung nach Aufnahme von in Lebensmitteln gebildeten Botulinum Neurotoxinen.
Um ihren finalen Wirkungsort, die Motoneuronen, nach oraler Aufnahme zu erreichen, müssen die Neurotoxine die harschen Bedingungen der Magen-Darm-Passage in aktiver Form überstehen. Die produzierenden Bakterien stellen den Toxinen hierfür ein Reihe von Hilfsproteinen, sogenannte Neurotoxin-assoziierte Proteine, zur Verfügung, deren Rolle in der Vermittlung der oralen Toxizität weltweit seit Jahrzehnten Forscher im Feld der biologischen Toxine zu ergründen suchen.
Bekannt war, dass die Neurotoxine auf genetischer Ebene von den Bakterien in einem von zwei möglichen Genclustern kodiert werden (HA-Cluster oder OrfX-Cluster). Im Toxin-Cluster aller bekannten Neurotoxine liegt immer auch ein Nicht-Toxisches Nicht-Hämagglutinin (NTNH) vor, das das Neurotoxin in einem pH-sensitiven Komplex vor den harschen Bedingungen im Magen-Darm-Trakt schützt. Im gleichen Gencluster werden zusätzlich entweder die HA-Proteine (Hämagglutinine HA70, HA17, HA33) oder die OrfX/P47-Proteine (OrfX1, OrfX2, OrfX3, P47) kodiert.
Die Struktur der im HA-Cluster kodierten Botulinum Neurotoxine in einem stabilen Multiproteinkomplex enormer Größe (760 kDa), der bereits bei einfachen Kultivierungsbedingungen gebildet wird, konnte in den letzten Jahrzehnten aufgeklärt werden [1]. Des Weiteren ist die Rolle der HA-Proteine bei der Aufnahme des Toxins über den Darm nach oraler Aufnahme weitgehend verstanden [2]. Im Gegensatz dazu war bisher die Art der Komplexbildung der mit OrfX assoziierten Neurotoxine sowie die Rolle der OrfX/P47-Proteine unbekannt. Einem multidisziplinären Team Universitäten von Kalifornien (Irvine, USA), Helsinki (Finnland) und Nottingham (UK), der Medizinischen Hochschule Hannover (Deutschland) und dem Robert Koch-Institut gelang es nun, wesentliche physiologische und regulatorische Mechanismen der oralen Toxizität von OrfX-assoziierten Botulinum Neurotoxinen aufzuklären [3]. Die Forscher zeigten, wie die orale Toxizität von Botulinum Neurotoxin Serotyp E durch Interaktion mit den OrfX/P47-Proteinen auf molekularer und funktioneller Ebene vermittelt wird.
Die Studie wurde im Fachmagazin Nature Structural & Molecular Biology veröffentlicht (Gao L, Nowakowska MB, Selby K, Przykopanski A, Chen B, Krüger M, Douillard FP, Lam KH, Chen P, Huang T , Minton NP, Dorner MB, Dorner BG, Rummel A, Lindström M, Jin R. 'Botulinum neurotoxins exploit host digestive proteases to boost their oral toxicity via activating OrfXs/P47'; Nature Structural & Molecular Biology 2025; https://doi.org/10.1038/s41594-024-01479-0).
Durch geschickten Einsatz der CRISPR/Cas9-Technologie zum Ausschalten der Produktion einzelner Proteinkomponenten des OrfX-Clusters in Verbindung mit tierexperimentellen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass alle vier Proteine (OrfX1, OrfX2, OrfX3, P47) zusätzlich zum Neurotoxin und dem Protein NTNH benötigt werden, um eine drastische Erhöhung der Neurotoxizität zu bewirken. Die vier Proteine sind dabei einzeln oder in Kombination untereinander selbst nicht toxisch, sondern agieren wie ein „trojanisches Pferd“, um die Aktivität des Neurotoxins zu verstärken.
Ein wesentlicher Schritt hierbei ist die Aktivierung und proteolytische Spaltung von OrfX2 durch Verdauungsenzyme, die natürlicherweise im Magen-Darm-Trakt des Wirtes vorkommen. Nach der Aktivierung erfolgt eine Komplexbildung von bis zu zwei OrfX2-Proteinen an das Neurotoxin-gebundene NTNH, die mithilfe von Kryoelektronenmikroskopie (Cryo-EM) nachgewiesen wurde. Erst durch die Bildung des hochmolekularen Komplexes OrfX2-NTNH-BoNT wirkt BoNT/E hochtoxisch. Dieser molekulare Mechanismus steht im Gegensatz zum bisher bekannten Wirkmechanismus der HA-assoziierten BoNT-Komplexe, die natürlicherweise bereits vor Eintritt in den Wirt alle assoziiert vorliegen, und eine große Stabilität gegen die Bedingungen des Magen-Darm-Traktes besitzen.
Interessanterweise ist auch das Protein OrfX1, das natürlicherweise mit OrfX3 interagiert, empfindlich gegenüber dem Abbau durch Proteasen. Den beiden Protease-empfindlichen Strukturen – dem abgelösten Teil des OrfX2-Proteins sowie dem Protein OrfX1 – wird nach aktuellem Kenntnisstand in dieser Studie eine Schutzfunktion für ihre jeweiligen Bindungspartner (dem Protease-stabilen Anteil von OrfX2 bzw. dem Protein OrfX3) zugeschrieben, die jedoch nur bis zum Zeitpunkt des Proteaseabbaus relevant ist. Ein direkter Beitrag dieser Strukturen zur Toxizität hingegen wird nicht vermutet.
Mit dieser Studie konnte erstmalig eine strukturelle und funktionelle Verbindung aller vier OrfX/P47-Proteine zu Botulinum Neurotoxinen und ihrer Wirkung gezeigt werden. Aktuelle Erkenntnisse basierend auf methodischen Fortschritten der genomischen Analytik zeigen, dass ähnliche OrfX-Gencluster auch in vielen anderen nicht-BoNT-produzierenden Bakterien vorkommen, insbesondere in Verbindung mit insektiziden Toxinen [4]. Daher hat die Entdeckung der Rolle der OrfX-Proteine bei der Verstärkung der Toxizität der Botulinum Neurotoxine weitreichende Implikationen für zukünftige Erkenntnisse bezüglich der Wirkungsweisen vieler noch weitgehend unerforschter Toxine.
Das Fachgebiet Biologische Toxine im Robert Koch-Institut (ZBS3, www.rki.de/zbs3) ist eine nationale Referenzstelle für hochmolekulare biologische Toxine mit folgenden Arbeitsschwerpunkten:
- Diagnostik von Toxinen mikrobiellen und pflanzlichen Ursprungs, die für bioterroristische Anschläge genutzt werden können, mit zellbiologischen, genetischen und serologischen Techniken sowie mit chromatografischen Methoden und Massenspektroskopie,
- Konsiliarlabor für Neurotoxin-produzierende Clostridien (Botulismus, Tetanus) sowie DVG-Konsiliarlabor für C. botulinum / Botulinum Neurotoxinen in Lebensmitteln,
- Erstellung von SOPs für die Diagnostik,
- Bereitstellung von Referenzproben, Referenzbakterienstämmen und Standards, Vorhalten der Diagnostika,
- Anpassung der Diagnostika an die zu erwartenden Untersuchungsmaterialien,
- Entwicklung von Strategien zum Nachweis neuer und veränderter Toxine und Agenzien,
- Forschung auf dem Gebiet der Pathogenese der verursachten Erkrankungen,
- Entwicklung von Strategien zur Prävention, Dekontamination und Bekämpfung
- Ringversuche zur Qualitätssicherung der Diagnostik,
- Mitwirkung an der Erstellung von Standardtherapien.
- Lee K, Gu S, Jin L, Le TT, Cheng LW, Strotmeier J, Kruel AM, Yao G, Perry K, Rummel A, Jin R. Structure of a bimodular botulinum neurotoxin complex provides insights into its oral toxicity. PLoS Pathog. 2013;9(10):e1003690. doi: 10.1371/journal.ppat.1003690. Epub 2013 Oct 10. PMID: 24130488; PMCID: PMC3795040.
- Lee K, Zhong X, Gu S, Kruel AM, Dorner MB, Perry K, Rummel A, Dong M, Jin R. Molecular basis for disruption of E-cadherin adhesion by botulinum neurotoxin A complex. Science. 2014 Jun 20;344(6190):1405-10. doi: 10.1126/science.1253823. PMID: 24948737; PMCID: PMC4164303.
- Gao L, Nowakowska MB, Selby K, Przykopanski A, Chen B, Krüger M, Douillard FP, Lam KH, Chen P, Huang T , Minton NP, Dorner MB, Dorner BG, Rummel A, Lindström M, Jin R. Botulinum neurotoxins exploit host digestive proteases to boost their oral toxicity via activating OrfXs/P47. Nature Structural & Molecular Biology. 2025 Jan 21; https://doi.org/10.1038/s41594-024-01479-0.
- Nowakowska MB, Douillard FP, Lindström M. Looking for the X Factor in Bacterial Pathogenesis: Association of orfX-p47 Gene Clusters with Toxin Genes in Clostridial and Non-Clostridial Bacterial Species. Toxins (Basel). 2019 Dec 31;12(1):19. doi: 10.3390/toxins12010019. PMID: 31906154; PMCID: PMC7020563.