Flucht und psychische Gesundheit
Empfehlungen zu Präventions- und Gesundheitsangeboten für aus der Ukraine geflüchtete Menschen
Stand: 05.04.2022
Im Allgemeinen ist die Gruppe geflüchteter Menschen sehr heterogen. Je nach Personengruppe und Fluchtgeschichte bestehen besondere gesundheitliche Risiken auch im Bereich der psychischen Gesundheit, aus denen wiederum unterschiedliche Versorgungsbedarfe resultieren. Aufgrund der momentanen großen Zahl Geflüchteter aus der Ukraine, ist der nachfolgende Text auf die voraussichtlichen Versorgungsbedarfe dieser Gruppe ausgerichtet.
Epidemiologische Situation in der Ukraine
Die geschätzte Prävalenz psychischer Störungen liegt in der Ukraine bei 12,4% und damit etwas niedriger als in Deutschland mit 15% (GBD 2019 Mental Disorders Collaborators, 2022). Ähnlich zur Situation in Deutschland, zählen zu den häufigsten psychischen Störungen in der Ukraine depressive Störungen, Angststörungen und alkoholbezogene Störungen (Dattani et al., 2021; WHO, 2020). Im Vergleich zu Deutschland ist die Prävalenz von depressiven und alkoholbezogenen Störungen sowie Aufmerksamkeitsdefizit-Störung mit Hyperaktivität (ADHD) und entwicklungsbezogenen Störungen jedoch in der Ukraine erhöht (23,92 vs. 28,67 von 100.000 majore Depression, 6,38 vs. 10,87 von 100.00 ADHD, 2,80 vs. 7,76 von 100.000 entwicklungsbezogene Störungen; Dattani et al., 2021; GBD 2019 Mental Disorders Collaborators, 2022; WHO, 2020). Während alkoholbezogene Störungen vermehrt bei Männern auftreten (6.7% vs. 0.8%), leiden Frauen in der Ukraine häufiger unter affektiven Störungen wie der majoren Depression (8.6% vs. 19.5%; Bromet et al., 2005). Die Suizidraten sind in der Ukraine mit 30,6 von 100.000 Personen ebenfalls vergleichsweise hoch, vor allem bei Männern (56,7 von 100.000 bei Männern, 8,4 von 100.000 bei Frauen; globaler Durchschnitt: 10,39 von 100.000; WHO, 2020). In Folge des Krieges 2014 und den anhaltenden Unsicherheiten und Belastungen z.B. verbunden mit der Flucht aus ostukrainischen Gebieten, ist ein Anstieg psychischer Störungen zu verzeichnen (Kuznestsova et al., 2019; Roberts et al., 2019; Quirke et al., 2020). Einige Studien weisen in diesem Zusammenhang insbesondere auf einen Anstieg bei traumatischen Erlebnissen und damit assoziierten post-traumatischen Belastungsstörungen (PTBS) bei (binnenländisch) geflüchteten Personen hin (Johnson et al., 2021). Davon sind auch Kinder und Jugendliche in der Ukraine betroffen: Etwa 1 von 4 Kindern und Jugendlichen benötigt psychosoziale Unterstützung, 33% zeigen Anzeichen einer Depression oder PTBS und Suizidgedanken (Martsenkovskyi et al., 2020, Yale Institute for Global Health Case Competition, 2021). Allerdings sind die Zahlen aufgrund von Versorgungslücken (z.B. wenig Ressourcen für psychische Gesundheit, Fachkräftemangel) und Barrieren (z.B. mangelndes Vertrauen) im Bereich psychischer Gesundheit mit Vorsicht zu betrachten, besonders auch im Hinblick auf ältere Personen (Quirke et al., 2020; Yale Institute for Global Health Case Competition, 2021). Dies zeigt sich unter anderem darin, dass nur 4% der Bevölkerung im Jahr 2018 eine psychische Gesundheitsversorgung in Anspruch genommen hat (Skokauskas et al., 2020). In der GEDA-EHIS 2019/2020 berichteten im Vergleich dazu 10% der in Deutschland lebenden Bevölkerung eine Inanspruchnahme psychotherapeutischer und psychiatrischer Leistungen in den vergangenen zwölf Monaten (Prütz et al., 2021). Im Zuge der COVID-19 Pandemie hat sich die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Versorgungsangebote in der Ukraine weiter verringert (Yale Institute for Global Health Case Competition, 2021). Kinder und Jugendliche scheinen besonders von einem Rückgang in der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen während der COVID-19 Pandemie betroffen zu sein.
Screening psychischer Gesundheit
Basierend auf den Erkenntnissen zur Prävalenz psychischer Störungen in der Ukraine und zu psychischen Probleme anderer Geflüchteter, empfiehlt es sich dringend (a) kurzfristig bereits vorliegende Diagnosen psychischer Störungen und akute Symptome der häufigsten psychischen Störungen (depressive Störungen, Angststörungen, post-traumatische Belastungsstörung; gemäß ICD-11 und DSM-5), traumatische Erfahrungen und psychischen Distress abzufragen und (b) längerfristig verhaltensbasierte Screening Fragebögen (z.B. Alkoholkonsum), psychosomatische Symptomabfragen und Belastungen im Allgemeinen zu ergänzen. Hierbei ist auf die Verwendung von der Situation angemessenen altersspezifischen und kurzen Screening Instrumenten zu achten und es gilt besonders vulnerable Gruppen (z.B. unbegleitete Minderjährige, Personen mit Gewalterfahrungen oder bei Verlust nahestehender Personen) zu identifizieren.
Prävention und Versorgung psychischer Störungen für aus der Ukraine Geflüchtete
Da die psychische Gesundheit anders als z.B. Infektionskrankheiten nicht Teil des routinemäßigen Screenings nach §36(4) IfSG bei der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften ist, benötigen Geflüchtete bei ihrer Ankunft in Deutschland in diesem Bereich besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung.
Zudem ist aufgrund des aktuellen Konflikts in der Ukraine und infolge der COVID-19 Pandemie von einem erhöhten Bedarf an akuter psychosozialer, psychotherapeutischer bzw. psychiatrischer Versorgung auszugehen sowie von einem mittelfristig hohen Bedarf an psychologischer und sozialer Beratung wie Unterstützung. Geflüchtete werden sehr unterschiedlich untergebracht und eine regelhafte Erstuntersuchung ist nicht vorgesehen; dies erschwert ein lückenhaftes Screening psychischer Gesundheit. Daher ist eine weitreichende Dissemination von Informationen über niedrigschwellige Hilfsangebote, am besten direkt bei der Ankunft sowie kontinuierlich unter Berücksichtigung qualifizierter Sprachmittlung über die zentralen öffentlichen Kanäle des Gesundheits- und Sozialwesens, dringend zu empfehlen.
Das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (https://infodienst.bzga.de/migration-flucht-und-gesundheit/) und das Land Berlin (https://www.berlin.de/ukraine/ankommen/medizinische-versorgung/) haben beispielsweise eine Sammlung an Informationen und Anlaufstellen zur medizinischen Versorgung und psychosozialen Beratung für Geflüchtete aus der Ukraine zusammengestellt. Eine bundesweite wichtige Anlaufstelle für Geflüchtete ist die Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAFF), die bereits vor einem Mangel an Kapazitäten bei der großen zu erwartenden Anzahl an Geflüchteten aus der Ukraine warnt (BAFF, 2022). Gleichzeitig werden bereits bestehende Versorgungsangebote spezifisch für Geflüchtete aus der Ukraine ausgebaut. Zahlreiche Praxen der kassenärztlichen Vereinigung bieten kostenlose medizinische und psychotherapeutische Versorgung für aus der Ukraine Geflüchtete an und einige Telefonseelsorgen bieten Gespräche auf Russisch und Ukrainisch an. Auf den Internetpräsenzen verschiedener Organisationen und Dachverbände findet man Aufrufe zur ehrenamtlichen Versorgung (z.B. Psychotherapeutenkammer Berlin, 2022). Auch an Kinder und Jugendliche gerichtete niedrigschwellige Angebote befinden sich im Auf- und Ausbau (z.B. Krisenchat in russischer oder ukrainischer Sprache).
Die Erkenntnisse bisheriger Studien weisen darauf hin, dass bei Geflüchteten aus der Ukraine mit einem hohen Bedarf an Sicherheit, sozialer Unterstützung und Wissen (z.B. über die gesundheitliche Versorgung in Deutschland) zu rechnen ist (Jannesari et al., 2021; Mangrio et al., 2017). Für die psychische Gesundheit sind mögliche Barrieren und Unterschiede aufgrund der Sprache und Kultur sowie Stigmatisierungs- und Diskriminierungsängste aufgrund psychischer Probleme von hoher Relevanz (Jannesari et al., 2021; Mangrio et al., 2017). Der Erstkontakt ist hierbei entscheidend, um Vertrauen zu gewinnen und die Bereitschaft zur Inanspruchnahme zu erhöhen. Die Bedarfe sollten in einem initialen Gespräch ermittelt und gezielt auf konkrete psychologische oder soziale Hilfsangebote verwiesen werden. Gemäß Asylbewerberleistungsgesetz können Geflüchtete über die zuständigen Ämter der Kommunen Behandlungsscheine für die ärztliche und psychotherapeutische Versorgung bekommen, in Notfällen erfolgt auch ohne Behandlungsschein eine Versorgung. ,. Aktuell nehmen jedoch bereits einige Bundesländer einen vereinfachten Lösungsweg über Vereinbarungen mit den Krankenkassen wahr und es wird diskutiert, wie Geflüchtete aus der Ukraine in naher Zukunft einen regulären Leistungsanspruch analog der GKV-Leistungen erhalten können (KBV, 2022). Eine solche Lösung wäre sehr zu begrüßen, dabei ist die qualifizierte Sprachmittlung essentiell. In diesem Zusammenhang dürfen auch die psychischen Belastungen von Freiwilligen nicht unberücksichtigt bleiben, und es sollte eine gesonderte Beratung angeboten werden. Das Einbinden von Geflüchteten in das psychologische und soziale Hilfesystem (z.B. Mentoring, Peer-to-Peer Unterstützung) kann basierend auf entsprechenden Qualifikationen sowohl für Helfende als auch Hilfesuchende stabilisierend und sinnstiftend wirken und hat darüber hinaus Vorteile für die Kommunikation und das Vertrauen (de Graaff et al., 2020; Paloma et al., 2020). Später gewinnen vermehrt Aspekte wie eine stabile Unterbringung, Akzeptanz und Integration an Bedeutung (Fazel et al., 2012; Niemi et al., 2019). Es besteht die Gefahr, dass der Kontakt zum Gesundheits- und sozialen Hilfesystem über die Zeit hinweg abreißt, was durch eine klare und verbindliche Zuweisung von Zuständigkeiten und Vernetzung bzw. Austausch auch innerhalb der Systeme verringert werden könnte.
Literatur
- Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer BAFF (2022, 25. Februar) Ukraine: Bundesregierung muss die humanitäre Verantwortung für geflüchtete Menschen sicherstellen. https://www.baff-zentren.org/pressemitteilungen/ukraine-humanitaere-verantwortung-sicherstellen/
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